Die Gräfin von Mortain

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Moderator: Ginny-Rose_Carter

Die Gräfin von Mortain

Beitragvon MyladyDeWinter » Mittwoch 18. Juni 2014, 07:09

Das hier ist eine Dumas Fanfic von mir, sie kann aber auch gelesen werden, wenn man Dumas noch nie gelesen hat.
Über eure Meinungen würde ich mich freuen.


Rouen, 24. Dezember 1649

Weihnachten,, das Fest der Liebe. Für mich ist es eher das Fest der Einsamkeit, denn seit dem Tod meines Vaters lebe ich alleine auf unserem Schloß in der Nähe von Rouen. Ich war das einzige Kind meiner Eltern und habe nie geheiratet. Ich bin die Gräfin von Mortain und könnte mit meinem Reichtum und meinem alten Adel, der sich bis zu den Tagen Karls des Großen zurückverfolgen lässt, auch mit fünfundzwanzig noch eine gute Partie machen, aber das möchte ich gar nicht. Ich glaube nicht dass ich einen Gatten finden würde der mit meinen Gewohnheiten einverstanden wäre.
Jedes Jahr am Heiligen Abend lud mein Vater einen Bettler oder eine Bettlerin an unsere Festtafel ein und ich führe diese Tradition fort. Vater sagte immer, dass es die heilige Pflicht von uns Adeligen sei, den Armen ihr schweres Los etwas zu erleichtern, und ich sehe das genauso. Die arme Seele die ich heute an meine Tafel einladen werde soll ein schönes Fest haben und sich endlich einmal so richtig sattessen können. Vater wäre gewiss stolz auf mich, wenn er sehen könnte, wie ich jetzt in den Straßen von Rouen nach einem dieser bedürftigen Menschen suche.
An diesem Nachmittag weht ein schneidend kalter Wind durch die belebten Straßen und Gassen der Stadt. Ich lenke meine Schritte zum großen Marktplatz vor der Kathedrale, wo verschiedene Händler ihre Buden aufgebaut haben und heißen Würzwein, Schmalzgebäck, Fleischpasteten, gebrannte Mandeln und ähnliche Köstlichkeiten feilbieten. Ein Bauer verkauft lebende Gänse, die dicht an dicht in Holzkisten gedrängt, laut schnattern. Ein kleiner magerer Junge, der viel zu große Schuhe und ein für ihn viel zu weites, mehrfach geflicktes Wams trägt, verkauft kleine, geschnitzte Krippenfiguren, die er in einer Lade mit sich herumträgt. Ein paar Mönche trinken heißen Würzwein und werfen den vorübergehenden Mägden, die für ihre Herrschaft die letzten Weihnachtseinkäufe machen, begehrliche Blicke zu. Ein paar Kinder singen Weihnachtslieder, während eines von ihnen mit einem Hut in der Hand die Passanten um eine kleine Spende bittet. Als ich dem Kind eine Münze in den Hut werfe, schenkt es mir ein dankbares Lächeln.
Ein Büttel jagt einem wieselflinken Straßenkind hinterher, das einen Honigkringel gestohlen hat.

Es ist so eisig kalt, dass ich trotz des dicken Mantels friere und es hat wieder zu schneien begonnen. Der zwischen den Buden liegende Schneematsch verschwindet unter einer dünnen weißen Decke.
Ohne den Verkaufsbuden weitere Beachtung zu schenken gehe ich über den Markt zur Kathedrale, wo sich vor dem Portal die Bettler der Stadt drängen, lauter arme Seelen, um die sich niemand kümmert. Eine Schande ist das.
Nur die Stärksten unter ihnen können sich einen Platz an einer der Feuerstellen sichern, die anderen werden einfach beiseite gedrängt. Für die Feuer haben sie alles Holz verwendet, das sie stehlen oder erbetteln konnten. Frauen, Kinder und Männer aller Altersstufen hocken hier im Schatten der Kathedrale, alle abgemagert bis auf die Knochen und mit stumpfen, leeren Augen, in denen schon lange jede Hoffnung erloschen ist. Ach, wie weh es mir im Herzen tut, diese armen Geschöpfe so leiden zu sehen.
Als ich meine Geldkatze heraushole und ihnen ein paar Münzen hinwerfe, stürzen sie sich sogleich darauf und balgen sich darum wie die wilden Tiere. Es erschüttert mich jedes Jahr aufs Neue, zu sehen, wie tief Hunger und Verzweiflung einen Menschen sinken lassen.
Zwei Frauen, deren Körper nur noch Haut und Knochen sind, prügeln sich um die Münzen, und die eine reißt der anderen dabei ein Büschel Haare aus.
“Ihr braucht euch nicht darum zu prügeln, es ist genug für alle da!”, rufe ich und verteile weitere Münzen unter den bedauernswerten Kreaturen.
Lächelnd denke ich an Vater, der früher zusammen mit mir Münzen verteilt hat. Mutter habe ich nie kennengelernt, sie starb bei meiner Geburt.

Da fällt mir ein Bettler auf, der sich als einziger nicht am verzweifelten Gerangel um die Münzen beteiligt. Mit apathischem Blick hockt er an der Mauer der Kathedrale, sein abgemagerter Körper ist in einen zerschlissenen, verdreckten schwarzen Mantel gehüllt.
Mit seinem blonden Haar und den blassblauen Augen sieht er wie ein Ausländer aus, ein Engländer, Schwede oder Deutscher vielleicht, den irgendwelche unglücklichen Umstände hierher verschlagen haben. Sein Haar ist fettig, seine Haut totenbleich. Als ich näher herankomme, sehe ich dass er weint. Der arme Mann kann kaum älter als ich sein, und hier auf der Straße wird er höchstens noch ein, zwei oder drei Jahre überleben, jeder Tag davon eine einzige Hölle auf Erden.
Ich beschließe, dass er es sein soll, der heute Abend ein Bad, ein gutes Essen und ein warmes weiches Bett bekommt. Als ich mich zu ihm herunterbeuge und ihn behutsam an der hageren Schulter berühre, blickt er erschrocken zu mir auf.

Er stinkt so entsetzlich dass sich mir beinahe der Magen umdreht. Wie kann Gott nur zulassen, dass es Menschen gibt, die so vor sich hinvegetieren müssen, warum hilft er ihnen nicht? Wenn ich dieses Elend hier sehe, Menschen die am Heiligen Abend Hunger leiden und frieren müssen, die nicht wissen ob sie den Frühling noch erleben werden, dann frage ich mich manchmal, warum es auf der Welt so ungerecht zugeht. Und selbst wenn diese Menschen den Frühling erleben, so wird auch dann ihr Leben nur von Hunger und Leid bestimmt sein.
“Alles wird gut!”; sage ich zu ihm, “ich werde dich mit auf mein Schloß nehmen und ab heute wirst du nie wieder hungern müssen. Du wirst auf einer weichen Matratze schlafen und die erlesensten Leckereien genießen dürfen.”
Vater und ich haben immer für die Bettler gesorgt die wir zum Christfest an unsere Tafel luden, wir können uns das ja leisten. Keiner von ihnen muss jemals zurück auf die Straße.
In den blassblauen Augen des jungen blonden Bettlers schimmert ein Funke von Hoffnung auf, vermischt mit Ungläubigkeit und Argwohn.
“Warum sollte eine Frau wie Ihr sich um das Wohl eines Bettlers sorgen? Ich kann Euch nichts für Eure Hilfe bieten!”
“Weil Jesus einst gesagt hat, was ihr dem geringsten meiner Brüder tut, das habt ihr auch mir getan. Meine Wohltätigkeit wird mir irgendwann einmal einen Platz im Himmelreich sichern.”
Der Bettler lacht, ein galliges, bitteres Lachen.
Genau das Gleiche sagte mir damals der Schiffsarzt, der meine Stichwunde versorgt hat. Selbst jene, die scheinbar selbstlos handeln, sind nur um ihr Seelenheil besorgt.”

Obwohl er ziemlich abgemagert ist, habe ich den Eindruck dass er noch nicht allzu lange auf der Straße lebt. Ich kann erkennen, dass sein verdreckter, durchlöcherter Mantel aus bestem Samt gefertigt wurde, womöglich ist dieser Mantel das Einzige, was ihm aus seinem alten Leben geblieben ist. Bei mir waren schon viele Bettler zu Gast, darunter auch solche, die einst angesehene Kaufleute waren und sich dann verspekuliert hatten, oder verarmter Adel. Die meisten Menschen denken, wenn sie diese armen Kreaturen sehen, gar nicht daran, dass es ihnen eines Tages auch selbst so ergehen könnte.
“Wie heißt du, und was hat dich hierher verschlagen? Du bist doch gewiss nicht immer Bettler gewesen?”
Er seufzt leise auf und blickt mich traurig an.
“Ich habe keinen Namen mehr. Ende Januar wurde ich von der Besatzung eines vorüberfahrenden Schiffes aus dem Ärmelkanal gefischt, halb erfroren, an einem Stück Treibholz festgeklammert, mit einer Stichwunde am Bauch. An jenem Tag wurde ich vermutlich von einem Stück Treibgut am Kopf getroffen und verlor so mein Gedächtnis. Meine Vergangenheit liegt für mich gänzlich im Dunkeln und meine Zukunft sieht düster aus.”
Der arme Mann. Womöglich wurde er Opfer eines Piratenangriffs auf hoher See und hat vorher ein ganz normales, glückliches Leben in Wohlstand geführt. Wer seine Erinnerung verliert und dann niemanden hat, der sich seiner annimmt, der ist verloren. Und er scheint niemanden gehabt zu haben, sonst säße er jetzt nicht hier. Ich muss ihm einfach helfen.

“Komm mit, ich kann dafür sorgen, dass deine Zukunft rosiger aussieht. So bekomme ich meinen Platz im Himmel und du ein gutes Leben. Ein gerechter Tausch, meinst du nicht auch?”
Wer völlig ausgehungert und durchgefroren ist wie er, der kann es sich nicht leisten, misstrauisch zu sein. Die Aussicht auf Nahrung und ein Obdach bewegt ihn zu einem schwachen Nicken.
Mein Diener Nicolas hilft ihm auf und stützt ihm beim Gehen, denn er ist sichtlich geschwächt. In einer Seitengasse in der Nähe der Kathedrale wartet meine Kutsche auf uns.
Als wir in der Kutsche sitzen, halte ich mir ein parfümiertes Taschentuch vor die Nase, weil der Mann bestialisch stinkt.
“Ich bin die Gräfin von Mortain”; erkläre ich ihm, “und auf dem Schloß wirst du gleich ein Bad nehmen, danach wird das Festmahl aufgetragen.”
Ein zaghaftes Lächeln huscht über sein hageres, ausgezehrtes Gesicht, seine vorher so traurigen Augen, in denen sich seine ganze Resignation abzeichnete, leuchten nun.
“Ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich Euch bin, Gräfin. Wisst Ihr, irgendwie erinnert Ihr mich an meine Mutter. Sie war wie Ihr…blond und schön, ein Gesicht wie eine Madonna.”
“Du hast doch gesagt, dass du dich an nichts mehr erinnerst, weil du dein Gedächtnis verloren hast?”
“Das stimmt auch, ich weiß weder wie ich heiße, noch woher ich komme. Das einzige Bild, das in meiner Erinnerung auftaucht, ist jenes dieser engelsgleichen Frau, die mich auf ihrem Schoß sitzen ließ, mich liebkoste und mit Süßigkeiten fütterte. Ich glaube, dass das meine Mutter sein muss. Der Gedanke, dass sie jetzt vielleicht irgendwo um ihren Sohn, den sie bei einem Schiffsunglück ertrunken wähnt, weint, tut mir im Herzen weh. Aber bisher haben sich leider keine weiteren Erinnerungen eingestellt die mich zu ihr und dem Rest meiner Familie führen könnten, ich weiß ja nicht einmal ob ich Frau und Kinder habe.”

“Irgendwann wirst du dich gewiss erinnern können”, versuche ich ihm Mut zu machen, “glaub mir, es wird alles wieder gut.”
Der völlig entkräftete namenlose Mann erzählt mir, dass er, nachdem er sein Gedächtnis verlor und aus dem Meer gefischt wurde, seine wahre Identität nicht herausfinden konnte und dann niemanden hatte der ihm half eine Arbeit oder Obdach zu finden, und so endete er auf der Straße. Ein trauriges Schicksal, dem ich nun gerne eine glückliche Wendung geben möchte. Sein Gedächtnis kann ich ihm nicht zurückgeben, aber ich kann ihm eine Heimat bieten.

Als wir dann bei meinem auf einem bewaldeten Hügel liegenden Schloß ankommen befehle ich meiner Magd, ein Bad für den Mann vorzubereiten und ihm danach etwas von den alten Sachen meines Vaters zum Anziehen zu geben.
Als Celeste ihn eine halbe Stunde später in den Salon bringt, ist er kaum wiederzuerkennen. Sein vorher fettiges, glanzloses Haar schimmert jetzt golden im Schein des Kaminfeuers, und das weiße Seidenhemd und Hose und Wams aus schwarzem Samt lassen ihn, obwohl die Sachen für seinen abgemagerten Körper etwas zu weit sind, wie einen Edelmann erscheinen. Er ist nicht unbedingt ein schöner Mann, sein Gesicht wirkt verkniffen, seine Haltung etwas steif, aber er hat etwas an sich das mir gefällt.
Mein Diener Nicolas legt neue Holzscheite ins Feuer, während seine Frau, die Magd Celeste, das Festmahl aufträgt. Gänsebraten mit einer Farce aus Kastanien und Pflaumen, Klöße die aus diesen neuartigen Knollen aus der neuen Welt gemacht werden, mit Zimt gesüßter gekochter Reis, Fleischpasteten, eine Platte mit verschiedenen Käsesorten, Wildragout, das in Blätterteigpasteten serviert wird, und noch so einige andere Köstlichkeiten stehen nun auf dem mit Mistelzweigen festlich geschmückten Tisch. Ein verführerischer Duft erfüllt nun den Raum, Nicolas schenkt uns Wein ein.
Die Augen des Bettlers leuchten beim Anblick der erlesenen Speisen und ich sehe ihm deutlich an, dass er sich jetzt am liebsten sofort darauf stürzen möchte.

Wir setzen uns einander gegenüber an den Tisch.
“So, nun lass es dir schmecken und lange ordentlich zu!”; fordere ich ihn auf, während ich mir von Nicolas meinen Teller füllen lasse. Den anderen Dienern habe ich heute freigegeben, damit sie mit ihren Familien im Dorf Weihnachten feiern können, nur die alte Bertha und zwei Küchenjungen und Nicolas und Celeste arbeiten heute, wie jedes Jahr am Heiligen Abend. Ich bezahle sie dafür gut, und bis jetzt hat keiner von ihnen für Urlaub an Weihnachten gebeten.
Die meisten Bettler die bisher hier im Schloß speisen durften, haben das Essen gierig mit den Händen in ihren Mund geschaufelt und fast ohne zu kauen heruntergeschluckt, doch er ißt ganz gesittet mit Messer und Gabel, obwohl er doch völlig ausgehungert sein muss. Er kann nur aus gutem Hause stammen, wo man von Kindesbeinen an mit guten Tischsitten vertraut gemacht wird.
Es macht mir Freude zu sehen wie gut es ihm schmeckt.
“Ich kann gar nicht beschreiben wie dankbar ich Euch bin, Gräfin”, sagt er, während er sich von Nicolas seinen Teller ein zweites Mal füllen lässt, “in den letzten Monaten habe ich außer trockenem Brot, Küchenabfällen und den Ratten die ich fangen konnte nicht viel zu essen bekommen. Ihr habt mir das Gefühl zurückgegeben, ein richtiger Mensch zu sein.”

Als ich seine Hände genauer betrachte, fällt mir auf dass sie zart und schneeweiß sind und keinerlei Schwielen aufweisen. Das bestärkt mich in meiner Vermutung, dass er nicht aus einer armen Familie stammen kann, in der schon die Kleinsten hart arbeiten müssen.
Mit sichtlichem Behagen leert er seinen zweiten Teller und ich wundere mich darüber, dass ein Mensch der so lange hungern musste, jetzt so viel essen kann ohne sich übergeben zu müssen.
Als die Kerzen heruntergebrannt sind kommt Nicolas an den Tisch und ersetzt sie durch neue.
“Wie wird es nach dem Heiligen Abend mit mir weitergehen, Gräfin?”, will er wissen und blickt mich mit seinen großen blassblauen Augen fragend an, “muss ich wieder zurück auf die Straße?”
Ich nehme seine Hand und drücke sie sanft, schenke ihm ein aufmunterndes Lächeln.
“Was hätte es für einen Sinn, einem armen Menschen wie dich für eine Nacht gutes Essen und ein Obdach zu geben, wenn man dich hinterher wieder in Not und Elend zurückstoßen würde? Danach würde dir deine Lage doch nur noch umso hoffnungsloser erscheinen. Ich werde dafür sorgen, dass du nie wieder hungern und frieren müsst.”
Er atmet erleichtert auf und erwidert meinen Händedruck.
“Ihr seid ein guter Mensch, was Ihr für mich tut, das würde nicht jeder machen. Bis ich Euch traf hätte ich niemals zu hoffen gewagt, dass es für mich wieder aufwärts gehen könnte, ich dachte ich wäre ein Mann ohne Vergangenheit und Zukunft.”

Mir geht richtig das Herz auf als ich sehe wie glücklich er gerade ist, wie ein Lächeln sein vorher so verkniffenes, verhärmtes Gesicht erhellt. Eine ganze Weile sitzen wir gemütlich beisammen und ich erzähle ihm von meiner Kindheit und Jugend. Nicolas schenkt uns Wein nach, diesmal ist es Portwein.
Der Bettler probiert und schnalzt dabei mit der Zunge.
“Das ist Portwein, der Geschmack kommt mir so bekannt vor. Ach, wenn ich doch nur wüsste, wo ich den schon getrunken habe.”
Er trinkt einen weiteren Schluck und grübelt dabei vor sich hin.
“Seltsam…wieso sehe ich mich, wenn ich den Geschmack dieses Weines auf der Zunge spüre, vor meinem inneren Auge auf einem Schiff mitten auf hoher See? Ob ich wohl ein Seemann gewesen bin? Ein Marineoffizier vielleicht? Oder doch ein Kaufmann, der mit seinen Waren den Ärmelkanal überqueren wollte? Ob ich das jemals erfahren werde?”
“Der Portwein löst bei dir eine Erinnerng aus, das ist doch ein gutes Zeichen. Deine Erinnerung wird gewiss nach und nach zurückkehren, und dann wirst du endlich wissen wer du bist.”

Draußen ist es mittlerweile längst dunkel und es hat wieder zu schneien begonnen. Mir ist gerade richtig feierlich zumute.
“Komm, wir setzen uns an den Kamin. Nicoolas wird uns Eierpunsch und Maccarons bringen.”
Schon als Kind habe ich diesen abschließenden Teil des Festes, wenn ich unserem jeweiligen Gast den Teller mit dem bunten Gebäck reichen durfte, geliebt. Zwei Farben, grüne mit Pistaziengeschmack und rote, die nach Himbeeren schmecken. Kein Bettler, der sich von Ratten ernähren musste, kann einer solchen Köstlichkeit widerstehen.
Ich habe sie selbst gebacken, denn trotz meines Standes werkele ich gerne in der Küche herum. Gestern hatte meine Köchin Bertha ihren freien Tag, und da habe ich Maccarons gebacken, so wie jedes Jahr.
Wir sitzen gemütlich in den mit rotem Samt gepolsterten Sesseln am Kamin, als Nicolas uns zwei dampfende Becher mit Eierpunsch bringt, und Celeste folgt ihm mit dem Teller mit den Maccarons.
“In unserer Familie ist es immer schon Tradition gewesen, dass es nach dem Fest Maccarons und Eierpunsch gibt. Lass es dir schmecken..und danach wartet ein schönes weiches Bett auf dich.”
Wir stoßen mit dem Eierpunsch an, und dann halte ich ihm den Teller mit dem Gebäck hin.

“Die roten schmecken am besten. Maccarons sind mein Lieblingsgebäck, probier doch mal und sag mir dann, wie du sie findest. Ich habe sie selbst gebacken.”
Er blickt mich lächelnd an. “Ich hätte niemals gedacht, dass eine Gräfin gerne backen würde…Ihr seid wirklich eine außergewöhnliche Frau. Wisst Ihr…ich finde Euch sehr sympathisch und es ist mir eine Ehre Euer Gast zu sein.”
Er nimmt einen roten Maccaron, während ich mir einen grünen aussuche.
“Die sind köstlich”, schwärmt er, nachdem das Gebäckstück in seinem Mund verschwunden ist und er genüsslich kaut, “ich darf mir doch noch einen nehmen?”
“Nimm ruhig soviel du möchtest, es ist genug da.”
Er nimmt sich noch einen roten und meint dann:
“Die grünen werde ich gleich auch noch probieren. Wonach schmecken die denn?”
“Nach Pistazie!”; antworte ich ihm, während ich ihn wie gebannt anblicke.
Während er den zweiten Maccaron kaut, meint er lächelnd:
“Irgendwie erscheint mir das alles hier zu schön um wahr zu sein..so viel Glück kann ich doch gar nicht haben. Gewiss werde ich gleich in eisiger Kälte an die Mauer der Kathedrale gelehnt aufwachen und feststellen, dass das alles hier nur ein wundervoller Traum war. So gut kann es das Schicksal doch gar nicht mit mir meinen.”

Bevor ich ihm antworten kann, beginnt er plötzlich zu röcheln und fällt vom Sessel, windet sich in Krämpfen am Boden, seine Lippen laufen blau an.
“Was..was ist mit mir? Ich sehe nichts mehr und ich kann meine Beine nicht spüren….was zum Teufel habt Ihr mit mir gemacht?”
Als ich mit drei Jahren zum ersten Mal dabei war, als ein Gast uns verließ, da habe ich geweint, weil es mir Angst gemacht hat, aber Vater sagte mir damals, dass die arme Kreatur nun im Himmel bei Gott wäre und es besser haben würde, und dass wir ein gutes Werk täten. Beim nächsten Weihnachtsfest fand ich es dann schon gar nicht mehr so schlimm und beim vierten oder fünften Mal begann ich mich für die arme Seele, die nun ins Himmelreich durfte, zu freuen.
Die grünen Maccarons sind nicht vergiftet, in den roten ist ein aus getrockneten, hochgiftigen Fingerhutblüten gemahlenes Pulver, das man einfach dem Mandelmehl beimengt.
“Ich will nicht sterben!”; ruft er mit schwächer werdender Stimme aus und ringt ein letztes Mal verzweifelt nach Luft. Dann bleibt er reglos liegen. Nachher werden Nicolas und Celeste ihn im Schloßpark begraben, noch bevor die anderen Diener aus dem Dorf zurückkehren. Die beiden sehen gerne über meine Familientradition hinweg, solange ich sie Jahr für Jahr mit einem größeren Obulus bedenke. Und Bertha und die Küchenjungen werden nichts davon mitbekommen, weil sie längst, erschöpft nach dem langen Arbeitstag in der Küche, in ihren Betten liegen und tief und fest schlafen.
Ich habe mein Versprechen gehalten, der arme Mann ist nun von seinem elenden Dasein auf der Straße erlöst und im Himmel wird es für ihn ein warmes weiches Bett und immer genug zu essen geben.
Vater sagte immer, dass wir diesen Menschen helfen und damit ein gottgefälliges Werk tun, und genauso sehe ich das auch. An diesem Heiligen Abend habe ich einer weiteren bedauernswerten Seele geholfen zu Gott zu gelangen und sie von Hunger und Kälte erlöst. Dafür wird mir ein Platz im Himmelreich sicher sein, wenn eines Tages meine Zeit gekommen ist.
Aber bis dahin werde ich noch viele arme Kreaturen von ihrem Leid erlösen können. Ja, vielleicht sollte ich nicht nur an Weihnachten, sondern auch an Ostern jemanden hierher einladen
MyladyDeWinter
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